Tag & Nacht




Wenn die Bretagne atmet, dann im Rhythmus ihrer marées. Jetzt, Anfang Oktober, ist das Meer wieder in voller Bewegung – kraftvoll, glitzernd, unberechenbar. Zwischen Faszination und Gefahr rufen die Behörden zur Vorsicht auf. Denn die kommenden Tage bringen nicht nur ein Spektakel mit sich, sondern auch Risiken, die viele unterschätzen.


An der Küste steigt der Puls

Vom 7. bis 10. Oktober 2025 erlebt der bretonische Küstenstreifen wieder das, was Einheimische schlicht „les grandes marées“ nennen. Diese außergewöhnlich hohen Tiden mit Koeffizienten über 110 sind ein Schauspiel, das Jahr für Jahr Fotografen, Spaziergänger und Abenteurer anzieht – besonders rund um Saint-Malo, Cancale oder die Bucht des Mont-Saint-Michel.
Doch was für das Auge ein Wunder ist, bedeutet für die Behörden höchste Wachsamkeit. Die Präfekturen, allen voran die von Ille-et-Vilaine, haben in den letzten Tagen die Sicherheitsstufe erhöht und mahnen: Staunen ja – Leichtsinn nein.


Wenn das Meer plötzlich schneller ist als der Mensch

Das Gefährliche an den großen Marées ist nicht ihre Gewalt, sondern ihre Geschwindigkeit. Das Wasser steigt bei einetzender Flut teils so rasant, dass Spaziergänger und Muschelsammler binnen Minuten von der Flut überrascht werden. Wer auf Felsen, Sandbänken oder im Watt unterwegs ist, kann buchstäblich abgeschnitten werden.
Dazu kommen stärkere Strömungen, unberechenbare Rückläufe, glitschige Felsen. Was eben noch sicher schien, wird mit einem einzigen Schwall zur Falle. Die Küstenwache kennt das Muster: ein Moment der Unachtsamkeit, ein falscher Schritt, ein Handyfoto zu viel – und der Rückweg ist versperrt.


Vernunft statt Wagemut: Die Regeln des Küstenlebens

Die Empfehlungen der Behörden klingen simpel – und genau darin liegt ihre Wirksamkeit.
Nie allein losziehen. Immer den Tidenkalender im Blick behalten. Sich nicht zu weit hinaus wagen. Den Rückweg antreten, bevor man das Meer kommen sieht.
Auch Angler und Liebhaber der „pêche à pied“, des traditionellen Muschelsammelns, sollten die Zeiten der Flut genau kennen. Und: bei Unklarheit lieber abwarten. Denn das Meer wartet nicht.

Solche Ratschläge klingen banal – bis man erlebt, wie schnell sich ein friedlicher Nachmittag in eine Rettungsaktion verwandeln kann.


Zwischen Ehrfurcht und Leichtsinn

Die großen Marées sind eine Art kollektive Faszination. Ganze Familien pilgern ans Ufer, um zu sehen, wie die Wellen donnernd gegen die Mauern von Saint-Malo schlagen. Cafés füllen sich, Drohnen surren, und für einen Moment scheint die Bretagne selbst den Atem anzuhalten.
Doch Schönheit und Gefahr liegen dicht beieinander. Gerade bei blauem Himmel und sanftem Wind täuscht die Ruhe. Das Meer, sagen die Bretonen, ist „un vieil ami capricieux“ – ein alter, launischer Freund. Und Freunde behandelt man mit Respekt.


Eine stille Begleiterscheinung: das Wiederkehren der grünen Plagen

Während sich das Wasser hebt und senkt, tritt ein anderes Problem zutage: die grünen Algen.
Mit den großen Marées gelangen Nährstoffe und Ablagerungen wieder an die Oberfläche – und mit ihnen jene algues vertes, die seit Jahren für Diskussionen sorgen.
Sie sind das sichtbare Resultat einer unsichtbaren Überdüngung der Böden. Im Frühjahr 2025 verurteilte das Verwaltungsgericht Rennes den Staat wegen unzureichender Maßnahmen gegen die Nitratbelastung. Die Entscheidung war ein Wendepunkt – aber das Meer, das sich alles merkt, zeigt jetzt erneut, dass die Arbeit erst beginnt.
Denn wenn die Algen in der Sonne verrotten, entweichen giftige Gase, die Mensch und Tier gefährden können. Ein Risiko, das viele Urlauber gar nicht kennen.


Zwischen Verantwortung und Bewunderung

Was also tun, wenn die großen Marées kommen? Hinschauen – aber mit Augenmaß. Staunen – aber mit Abstand.
Der Respekt vor der See ist keine Frage von Angst, sondern von Erfahrung. Die Bretagne lebt mit dem Meer, nicht gegen es. Und wer die tosenden Wellen vor Saint-Malo oder Quiberon erlebt hat, weiß: Schönheit hat hier immer zwei Gesichter.
Vielleicht ist das die eigentliche Lehre dieser Tage – dass wir Natur nicht nur konsumieren, sondern verstehen müssen.

Denn wer dem Meer zuhört, hört mehr als nur das Rauschen.

Autor: C. Hatty

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