Tag & Nacht




Frankreich steht vor einem jener Momente, in denen die politische Logik der Fünften Republik an ihre Grenzen stößt. Emmanuel Macron, ein Präsident ohne Mehrheit und ohne sichtbaren Ausweg, steht vor einer Entscheidung, die seine gesamte Amtszeit neu definieren könnte: Soll er eine Premierministerin oder einen Premierminister aus dem Lager der Linken ernennen, um eine drohende Parlamentsauflösung zu vermeiden? Was noch vor Kurzem als abwegige Spekulation galt, gewinnt an Kontur. Es wäre der Versuch, das Unversöhnliche zu versöhnen – und zugleich der Beweis, dass die französische Politik, wie man sie bisher kannte, erschöpft ist.

Die französische Verfassung gibt dem Präsidenten Machtfülle, aber keine Wunderwaffen. Nach Wochen ergebnisloser Verhandlungen, in denen der letzte Premierminister Sébastien Lecornu vergeblich versuchte, eine tragfähige Mitte-Koalition zu schmieden, scheint Macron an einem Punkt angelangt, an dem er nur noch zwischen zwei Unsicherheiten wählen kann: einem neuen Urnengang, der das Rassemblement national stärken dürfte, oder einer Zusammenarbeit mit Kräften, die ihm politisch diametral gegenüberstehen. Die Sozialisten wittern in dieser Lage ihre große Stunde. Sie fordern ein Kabinett der Linken und Grünen, getragen von einer Mehrheit der Vernunft – ein zartes, aber kalkuliertes Angebot an die Macronisten, die eine erneute Niederlage an der Wahlurne fürchten müssen.

Dass ein solcher Premierminister überleben könnte, widerspricht auf den ersten Blick jeder politischen Erfahrung der letzten Jahre. Doch die Kräfteverhältnisse im französischen Parlament haben sich verschoben. Die Macron-Fraktion ist innerlich zersplittert, viele ihrer Abgeordneten haben sich vom Élysée entfremdet. Der frühere Hoffnungsträger Gabriel Attal zeigt eine auffallende Bereitschaft, über parteipolitische Linien hinweg zu verhandeln. Selbst in der Präsidentenpartei wächst die Einsicht, dass eine weitere Eskalation nur den Extremparteien nützen würde. Eine linke Regierung könnte so zum Instrument der Stabilisierung werden – nicht aus Überzeugung, sondern aus Notwendigkeit.

In der Linken wiederum ist der Wunsch nach Verantwortung unübersehbar, verbunden mit der klaren Abgrenzung von Jean-Luc Mélenchons linkspopulistischer „France insoumise“. Der Sozialistischen Partei unter Olivier Faure ist es gelungen, das eigene Profil als pragmatisch, institutionstreu und kompromissfähig zu schärfen. Sie weiß, dass ein Premierminister der Linken nur dann Bestand haben kann, wenn er die Mitte nicht provoziert. Der Verzicht auf den autoritären Gebrauch des Artikels 49.3, das Bekenntnis zum parlamentarischen Dialog und die Bereitschaft zu inhaltlichen Zugeständnissen sind Signale, die über das linke Lager hinaus wirken sollen. Faure will nicht die Revolution, sondern die Rückkehr zur Normalität – ein seltenes Programm in der französischen Politik.

Für Emmanuel Macron wäre eine solche Lösung zugleich Demütigung und Entlastung. Er müsste akzeptieren, dass die Regierungspolitik nicht von ihm selbst bestimmt wird, könnte aber den Anschein einer konstruktiven Handlungsbereitschaft wahren. Eine linke Regierung, die sich auf Kompromisse mit den Macronisten stützt, wäre kein Bruch mit dem System, sondern ein befristeter Waffenstillstand im Dienste der Stabilität. Macron könnte sagen, er habe alles versucht – eine Form politischer Schadensbegrenzung, die seine Gegner kaum angreifen können.

Der Preis wäre freilich hoch. Die institutionelle Architektur der Fünften Republik ist auf klare Mehrheiten und vertikale Verantwortung gebaut. Eine Regierung, die auf der Duldung ihrer Gegner beruht, wäre strukturell schwach. Schon das erste unpopuläre Gesetz, der erste Haushalt, könnte sie ins Wanken bringen. Der Versuch, das Land über parteipolitische Brüche hinweg zu einen, könnte leicht in einem stillen Krieg der Revanchen enden. Die Vorstellung, dass eine Linke, die sich erst mühsam von Mélenchon emanzipiert hat, inzwischen zur Stabilität beitragen kann, bleibt gewagt.

Und doch ist genau diese Wette der Kern des französischen Dilemmas. Das politische Zentrum hat seine Strahlkraft verloren, die Extreme wachsen, und der Präsident, der einst als Verkörperung des Pragmatismus galt, ist zur Geisel seiner eigenen Machtvorstellung geworden. Ein Premierminister aus der Linken wäre kein Sieg der Sozialdemokratie, sondern ein Symptom einer Republik, die ihren inneren Kompass sucht. Es wäre ein Experiment, das nur aus Erschöpfung geboren werden konnte – und vielleicht gerade deshalb eine Chance verdient.

Autor: Andreas M. Brucker

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