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Wenn ein einzelner Mensch gegen einen der größten Energieversorger Europas klagt – und dabei nicht klein beigibt –, dann ist das nicht einfach nur eine juristische Auseinandersetzung. Es ist ein symbolischer Kampf um Gerechtigkeit in einer Welt, in der die Klimakrise längst nicht mehr bloß eine abstrakte Zukunftsbedrohung ist. Der Fall Luciano Lliuya gegen RWE markiert genau so einen Moment. Und wer denkt, das sei ein Randthema: Der könnte sich gewaltig täuschen.


Ein Blick in die Anden – und in die globale Verantwortung

Saúl Luciano Lliuya lebt in Huaraz, einer Stadt in den peruanischen Anden auf über 3000 Metern Höhe. Er ist Landwirt und zugleich Bergführer – jemand, der das Land, das Klima und die Berge so gut kennt wie seine eigene Westentasche. Was ihn beunruhigt, ist der Gletschersee Palcacocha oberhalb seiner Heimatstadt. Der See ist angeschwollen – bedrohlich sogar. Und schuld daran ist das, was sich seit Jahrzehnten weltweit abspielt: Die beschleunigte Eisschmelze durch die globale Erwärmung.

Wie ernst ist das Risiko?

Sehr ernst. Bereits 1941 kam es dort zu einer katastrophalen Flutwelle, die 1800 Menschenleben forderte. Heute – mit dem dramatischen Anstieg des Wasservolumens im Palcacocha – wächst die Angst vor einem erneuten Dammbruch. Sollte sich ein Gletscherbruch ereignen, könnten riesige Wassermassen ins Tal stürzen. Die Stadt mit über 50.000 Bewohnern läge direkt auf dem Weg der Zerstörung.


Vom Bergdorf in die Gerichtssäle Deutschlands

Luciano Lliuya hat einen mutigen Schritt gewagt: Im Jahr 2015 reichte er beim Landgericht Essen Klage gegen den deutschen Energiekonzern RWE ein. Seine Argumentation: RWE trägt mit seinen Emissionen zur globalen Erwärmung bei – und damit auch zum Anwachsen des Gletschersees, der sein Leben und das vieler anderer bedroht.

Er verlangt nicht, dass RWE alles bezahlt – sondern genau jenen Anteil, den der Konzern laut wissenschaftlicher Studien seit der industriellen Revolution zum globalen CO₂-Ausstoß beigetragen hat: 0,47 Prozent. Das entspräche etwa 17.000 Euro, um Schutzmaßnahmen wie Dämme und Frühwarnsysteme mitzufinanzieren.

Ein Betrag, der für RWE nicht der Rede wert wäre – für Lliuya und seine Stadt jedoch überlebenswichtig.

Doch geht das so einfach? Kann ein einzelner Konzern für einen kleinen Prozentsatz der globalen Klimaauswirkungen haftbar gemacht werden?


Gerichte im Dilemma – Wissenschaft auf dem Prüfstand

Das Landgericht Essen wies die Klage 2016 ab. Die Begründung: Es lasse sich keine direkte Kausalität zwischen RWE und dem Risiko in Huaraz nachweisen. Doch Lliuya ließ nicht locker. Die Berufung am Oberlandesgericht Hamm hatte Erfolg – und das Gericht trat in eine Phase der Beweisaufnahme ein. 2017 hieß es zum ersten Mal in der deutschen Rechtsgeschichte: Ja, ein Unternehmen könnte grundsätzlich zivilrechtlich für Klimaschäden haftbar sein.

Damit war das Tor geöffnet – für einen juristischen Marathon mit weitreichenden Konsequenzen.

Im Mai 2022 reisten deutsche Richter und Sachverständige nach Huaraz. Sie inspizierten die Lage vor Ort, begutachteten den Gletschersee, sprachen mit lokalen Behörden. Ihre Frage: Ist die Bedrohung real, und lässt sich eine Verbindung zu den Emissionen großer Konzerne wie RWE wissenschaftlich belegen?


Der Stand im März 2025 – und was auf dem Spiel steht

Aktuell läuft die Beweisaufnahme weiter. Im Frühjahr 2025 geht es konkret um die Bewertung technischer Gutachten, hydrologischer Modelle und Klimadaten. Der Fall hat sich zu einem der bedeutendsten Klima-Prozesse weltweit entwickelt.

Das Urteil? Noch ausstehend.

Aber eines ist klar: Wenn Lliuya Recht bekommt, ist das ein Paradigmenwechsel. Es wäre ein Signal an die größten Emittenten der Welt: Ihr bleibt nicht länger ohne Folgen. Wer Emissionen verursacht, muss auch für Schäden geradestehen – zumindest anteilig.

Doch selbst, wenn die Klage abgewiesen wird, hat dieser Fall bereits viel bewegt.


Globale Resonanz – und der lange Schatten der Verantwortung

Der Fall Lliuya ist kein Einzelfall. In den letzten Jahren sind weltweit immer mehr sogenannte „Klimaklagen“ eingereicht worden. In den Niederlanden hat die Organisation Urgenda den Staat verklagt – mit Erfolg. In den USA kämpfen Jugendliche gegen Ölkonzerne. Und in Deutschland zwingen Verfassungsurteile die Regierung zum Handeln.

Doch warum ist gerade dieser Fall aus Peru so besonders?

Weil er eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit auf den Tisch legt: Können Konzerne, die jahrzehntelang massive Emissionen verursacht haben, einfach so davonkommen? Oder gibt es Wege, auch juristisch eine globale Verantwortung durchzusetzen?

Manche sagen: Das sei juristisch kaum umsetzbar. Andere entgegnen: Wenn das Recht sich nicht bewegt, obwohl die Realität nach Gerechtigkeit schreit – wozu dient es dann?


Der Mensch hinter der Klage – und die Kraft des Einzelnen

Luciano Lliuya ist kein Aktivist im klassischen Sinne. Er ist kein Teil einer großen Umwelt-NGO, kein Medienprofi, kein politischer Agitator. Sondern ein Mann, der seine Heimat schützen will.

Sein Mut, gegen einen Konzern wie RWE zu klagen, ist bemerkenswert – und erinnert uns daran, dass Veränderungen oft mit Einzelnen beginnen. Lliuya sagte einmal in einem Interview:

„Ich bin nicht gegen Deutschland oder gegen RWE. Aber ich will, dass die, die mitverantwortlich sind, uns helfen, unsere Stadt zu schützen.“

Klingt nach gesundem Menschenverstand, oder?


Wissenschaft, Verantwortung und der Wandel im Denken

Interessant ist, wie eng dieser Fall die Naturwissenschaft mit dem Recht verbindet. Um überhaupt bewerten zu können, ob RWE eine Verantwortung trifft, müssen Klimamodelle präzise zeigen, wie einzelne Emissionen sich global auswirken – und welche Effekte daraus resultieren.

Das ist heute besser möglich als noch vor zehn Jahren. Dank detaillierter Datenreihen, Satellitenaufnahmen und Rechenmodellen lassen sich Emissionsbeiträge konkreter benennen. Studien des Climate Accountability Institute oder des IPCC (Weltklimarat) zeigen klar: Ein kleiner Kreis von Konzernen ist für einen Großteil der globalen CO₂-Bilanz verantwortlich.

Dass solche wissenschaftlichen Erkenntnisse nun Eingang in Gerichtssäle finden, ist ein Zeichen dafür, wie sehr sich unser gesellschaftliches Verständnis verändert. Verantwortung wird nicht mehr nur moralisch gedacht – sondern juristisch überprüft.


Zukunftsperspektiven – ein globales Echo

Wenn der Fall Lliuya Erfolg hat, könnten hunderte – vielleicht tausende – ähnliche Klagen folgen. In besonders verwundbaren Regionen wie Bangladesch, den Philippinen oder im Sahel könnten Menschen Konzerne verklagen, die zum Klimawandel beitragen. Die Klimakrise wird damit nicht mehr nur Thema von Klimakonferenzen und politischen Programmen – sie wird justiziabel.

Natürlich stellt sich dann auch die Frage: Wie fair ist es, einzelne Unternehmen herauszupicken?

Aber vielleicht ist das genau der Punkt: Nicht zu strafen – sondern zu erkennen, dass es gemeinschaftliche Verantwortung braucht, und dass große Verursacher in der Pflicht stehen, sich an Lösungen zu beteiligen.


Klimagerechtigkeit – mehr als nur ein Schlagwort

Der Fall Lliuya ist auch ein Mahnmal für soziale Ungleichheit. Während Länder wie Deutschland jahrzehntelang von fossilen Energien profitierten, zahlen Menschen im globalen Süden oft den höchsten Preis: Ernteausfälle, Naturkatastrophen, Verlust von Lebensraum.

Und doch sind es genau diese Menschen, die kaum zur Erderwärmung beigetragen haben.

Klimagerechtigkeit bedeutet nicht, Schuld zu verteilen. Sondern Ressourcen, Verantwortung und Zukunftschancen neu zu denken.


Abschließende Gedanken – ein Fall, der bleibt

Ob Luciano Lliuya diesen Fall gewinnt oder nicht – sein Name wird in der Geschichte der Klimagerechtigkeit stehen. Er hat gezeigt, dass es Wege gibt, gegen Ungerechtigkeit vorzugehen. Dass Klimaschutz nicht nur eine Frage von Politik und Technik ist – sondern auch von Recht und Moral.

Und vielleicht ist genau das die wichtigste Erkenntnis:

Nicht immer müssen es Revolutionen sein, die Großes verändern. Manchmal reicht ein einzelner Mensch, der sich hinstellt und sagt: „So nicht.“


Quellen

  • Climate Accountability Institute (2014): „Carbon Majors Report“
  • Oberlandesgericht Hamm: Pressemitteilungen zum Fall Lliuya ./. RWE (2017–2025)
  • IPCC (2021): Sixth Assessment Report, Working Group I–III
  • Interview mit Saúl Luciano Lliuya, DW, 2021
  • Germanwatch: Fallakte Lliuya vs. RWE
  • BBC News: „Peruvian Farmer takes on German Energy Giant“, 2023
  • Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): „Klimaklagen weltweit“, 2024
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