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Die Straßen sind kein Zuhause – für viele jedoch Realität. Ein bitterer Bericht des Kollektivs „Les Morts de la rue“ offenbart eine düstere Bilanz: 2023 starben in Frankreich mindestens 735 obdachlose Menschen. Damit stellt der Anstieg im Vergleich zu den bereits erschreckenden Zahlen aus dem Vorjahr einen traurigen Rekord dar, und die Tatsache dahinter ist kaum zu übersehen: Das Leben auf der Straße endet für viele viel zu früh.

Der Bericht ist ein Weckruf – und eine Mahnung an die Gesellschaft.

Die bittere Wahrheit hinter den Zahlen

Weshalb diese Zunahme? „Les Morts de la rue“ vermutet eine Verschlechterung der Lebensbedingungen für Obdachlose, kombiniert mit einer verbesserten Erfassung der Todesfälle. 2022 waren es 638 Menschen, 2023 nun über 735. Doch selbst diese Zahlen zeigen nur einen Teil der Realität. Auf Basis einer Studie aus dem Jahr 2015 schätzt das Kollektiv, dass die tatsächliche Sterberate unter Obdachlosen bis zu sechsmal höher liegen könnte. Das bedeutet womöglich Tausende von Leben, die in Dunkelheit enden – weit weg von den Augen der Gesellschaft.

Besonders erschreckend: Das Durchschnittsalter der verstorbenen Obdachlosen liegt bei nur 48,8 Jahren, während die allgemeine Lebenserwartung in Frankreich bei 79,9 Jahren liegt. Ein unübersehbares Zeichen dafür, dass das Leben auf der Straße einen direkten Einfluss auf die Gesundheit und Lebenserwartung hat.

Wer sind die Opfer?

Ein genauer Blick auf die Zahlen zeichnet das Profil der Betroffenen klarer: Fast neun von zehn Verstorbenen sind Männer. Jede zweite Person ist französischer Herkunft, und die meisten dieser Menschen sterben im öffentlichen Raum oder auf der Straße – Orte, die nicht für das Leben, sondern für den schnellen Transit gedacht sind. Für viele endet der Kampf ums Überleben jedoch genau dort, in aller Öffentlichkeit und doch oft ungesehen.

Warum ist der Winter tödlicher?

Viele Todesfälle ereignen sich im Winter – eine Tatsache, die kaum überrascht, aber dennoch nachdenklich macht. Mit 31 % der dokumentierten Todesfälle ist der Winter die gefährlichste Jahreszeit, gefolgt von Herbst und Sommer (jeweils 23 %), während der Frühling mit 21 % die vergleichsweise geringste Todesrate aufweist. Kälte, Nässe und mangelnde medizinische Versorgung setzen den Menschen in der kalten Jahreszeit stark zu. Ein Aufruf zur Menschlichkeit und Solidarität, der mit jedem kalten Winterabend lauter wird.

Leben und Sterben im Verborgenen

Obdachlosigkeit ist ein Thema, das oft hinter Statistiken und Bürokratien versteckt wird. Für das Kollektiv „Les Morts de la rue“ ist es jedoch das Ziel, diese Menschen sichtbar zu machen. Die Organisation dokumentiert die Todesfälle, die sonst in Vergessenheit geraten würden, und verleiht den Toten eine Stimme. Sie fordert, dass die Namen und Geschichten der Verstorbenen gehört werden – ein stiller, aber kraftvoller Protest gegen die Gleichgültigkeit und das Vergessen.

Obwohl die Zahlen erschütternd sind, bleibt die Frage im Raum: Was wird getan, um diesen Trend zu stoppen? Die Zahl der Obdachlosen in Frankreich hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt und umfasst mittlerweile geschätzt 330.000 Menschen. Während die Regierung Projekte zur Unterstützung finanziert, fehlt es offenbar an konkreten Maßnahmen, die das Problem an der Wurzel packen – sozialen Wohnungsbau, umfassende psychische Betreuung und gesundheitliche Unterstützung für Betroffene.

Ein komplexes Problem ohne einfache Lösungen?

Das Problem der Obdachlosigkeit lässt sich kaum mit einzelnen Maßnahmen lösen. Viele Betroffene leiden unter psychischen Erkrankungen, Suchtproblemen oder sind durch schwierige persönliche Lebensumstände in die Obdachlosigkeit geraten. Umso dringender ist ein ganzheitlicher Ansatz nötig, der nicht nur die unmittelbaren Symptome lindert, sondern auch präventiv wirkt. Programme zur Wiedereingliederung, psychologische Betreuung und medizinische Hilfe könnten das Leben dieser Menschen deutlich verbessern – und womöglich sogar retten.

Doch was braucht es wirklich, um diese Krise in den Griff zu bekommen? Es ist eine Herausforderung, die Politik, Gesellschaft und jeden Einzelnen betrifft. Denn Obdachlosigkeit kann jeden treffen und braucht daher einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz.

Ein Ruf nach Menschlichkeit

Während die Zahlen sprechen, ist es letztlich die Empathie, die zählt. Jeder Mensch auf der Straße hat eine Geschichte, hat Hoffnungen und Wünsche. Ein Zuhause, eine Chance auf ein besseres Leben – das sind keine Privilegien, sondern Grundrechte. Der Bericht von „Les Morts de la rue“ ist mehr als nur eine Statistik. Er ist eine Mahnung, die uns daran erinnert, dass wir mehr tun können, ja, dass wir mehr tun müssen.

Die Frage bleibt: Wie viele Menschen müssen noch sterben, bevor wir wirklich hinsehen?

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