Tag & Nacht




Amboise – ein Name, der klingt wie ein Gedicht. Wer ihn ausspricht, hört das Echo der Renaissancehallen, das Flüstern von Leonardo da Vincis Skizzen und das Wispern des Loire-Windes zwischen den Mauern des Schlosses. Doch im Januar dieses Jahres zeigte sich ein anderes Gesicht: das der Bedrohung, ganz irdisch, ganz real. Das Königsschloss, einst Rückzugsort französischer Monarchen, wurde zur Baustelle. Ursache: die klimatische Schieflage der letzten Jahre – buchstäblich.

Zwischen Regenmassen und Rissen im Kalkstein

Amboise war nie ein Ort für Eile. Der Fluss mäandert gelassen, die Menschen gehen gemächlich, und selbst die Zeit scheint sich hier mehr zu strecken als zu verkürzen. Doch am 31. Januar 2025 hielt diese Ruhe kurz den Atem an: Ein Teil des südöstlichen Remparts zeigte deutliche Rutschbewegungen. Zuvor hatte der Herbst Rekorde gebrochen – um ein Drittel mehr Regen als üblich, dazu abrupte Temperaturschwankungen.

Der Hang, auf dem das Schloss seit Jahrhunderten ruht, begann zu leben – im ungemütlichsten Sinne. Böden quollen auf, verloren ihren Halt, Wasser sammelte sich in Schichten, die Stabilität schwand. Die Folge: Absperrungen, Evakuierungen, Lichter von Baggern und Lastwagen in der Nacht, während das Château oben wie ein träger Zeuge in die Dunkelheit ragte.

Ein Schloss in der Schwebe – das architektonische Erbe im Klimastress

Wer durch das Tor des Schlosses schreitet, passiert Jahrhunderte. Die Mauern, teils aus dem 15., teils aus dem 16. Jahrhundert, erzählen Geschichten von Louis XI., Charles VIII. und François I. Der Blick von der Bastion auf die Loire ist ein Versprechen – Schönheit, die bleibt. Aber bleibt sie wirklich?

Das Problem ist tiefgründig – im wahrsten Wortsinn. Die Fundamente des Schlosses ruhen auf einem komplexen Gesteinsverbund, durchzogen von Ton und Mergel. Früher war das stabil. Heute wird dieses Gemisch zur Achillesferse. Wenn Trockenperioden die Böden schrumpfen lassen und anschließender Starkregen sie aufweicht, verliert selbst jahrhundertealtes Mauerwerk den Halt. Die Schäden zeigen sich nicht in Prachtbögen oder Gewölben – sie sitzen im Hang, im Unsichtbaren.

Die Technik gegen das Vergessen

Der Mensch – Erfinder und Bewahrer. Was in Amboise derzeit geschieht, ist ein Lehrstück moderner Denkmalpflege. Ein mehrstufiges Sicherungsprojekt, minutiös geplant: Zunächst wurde der Hang entlastet – 3.000 Tonnen Erdreich mussten weichen. Dann: der Einbau schräg eingelassener Metallanker, bis zu 32 Meter tief. Schließlich ein Drainagesystem, das das Wasser zuverlässig ableiten soll.

Dabei läuft alles unter Hochdruck – wortwörtlich. Sensoren in den Mauern melden jede Bewegung. Ein Notfallplan existiert. Die Arbeiten sind eine Mischung aus Ingenieurskunst und Respekt vor der Geschichte. Die Stiftung, die das Schloss verwaltet, stemmt mit über zwei Millionen Euro die Kosten – ein Aufwand, der nur auf den ersten Blick übertrieben wirkt. Wer einmal die Königsgruft in der Kapelle gesehen hat oder Leonardos Grab – der weiß: Dieses Erbe ist unbezahlbar.

Die Stadt – zwischen Stolz und Sorge

Am Fuße des Schlosses liegt die Rue Victor-Hugo. Eigentlich eine Straße wie aus dem Bilderbuch – enge Gassen, kleine Lokale, flacher Blick zur Loire. Nun aber: Evakuierung. 80 Menschen mussten gehen, einige nur mit dem, was sie tragen konnten. Darunter auch Jacky Rapicault, ein Gastronom, der sein Lokal schloss und anderswo neu begann – widerwillig, aber pragmatisch.

In Gesprächen mit den Anwohnern spürt man das typische französische Zusammenspiel von Fatalismus und Lebenskunst. Ja, es ist schlimm. Aber die Geschichte Amboises war immer auch eine Geschichte von Übergängen. Und vielleicht ist dieser Bruch ein Moment, innezuhalten – nachzudenken über das, was bleibt, wenn das Wetter launisch wird.

Was das Klima erzählt – und was es verschweigt

Der Fall Amboise steht nicht allein. Frankreichs Kulturerbe leidet zunehmend unter den Launen des Klimas. Plötzliche Trockenheiten, dann Regenfluten, Spannungen im Gestein, Mikro-Risse, Auswaschungen – das Muster wiederholt sich. Und doch ist jede Stelle, jeder Ort, einzigartig in seiner Verletzlichkeit. Amboise zeigt das auf schmerzhaft klare Weise.

Was hier geschieht, ist keine Katastrophe – noch nicht. Es ist ein Mahnmal. Und vielleicht auch ein Wendepunkt in der Art, wie man über Denkmalpflege denkt. Sie ist nicht länger nur Konservierung – sie ist aktive Verteidigung gegen ein Klima, das selbst die stärksten Mauern prüfen will.

Amboise bleibt – vielleicht gerade deshalb

Obwohl ein Teil des Schlosses abgesperrt ist, bleibt der Besuch möglich. Vielleicht ist es sogar einer der eindrücklichsten Momente, diesen Ort zu erleben. Weil man spürt: Geschichte ist nie abgeschlossen. Sie lebt – im Baugerüst, im Warnschild, im Gespräch der Techniker mit der Dame an der Eintrittskasse. Und sie zeigt, wie fragil Schönheit sein kann.

Ein Spaziergang durch Amboise, vom Ufer der Loire hinauf zum Schloss, vorbei an der Kapelle, über den Hof, endet in einem Blick, der mehr sagt als viele Worte: Die Renaissance kannte viele Formen der Bedrohung. Diese hier aber – sie ist leise, sie ist tief, und sie fordert uns heraus.

Ein Reisebericht von V.O.Yager

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